Fügungen?



Wenn man das Thema individualbezogener Fügungen im Weltgeschehen ernsthaft angehen will, bekommt man ganz spitze Finger. Wie soll man das Phänomen der Fügung definieren, wer oder was verfügte hier? Welche objektivierbaren Kriterien markieren das Argumentationsfeld?

Nicht jedes Ereignis will man als Fügung gelten lassen, es muss sich um etwas Richtungweisendes handeln. Die Fügung wird einer göttlichen oder sonstigen höheren Macht zugewiesen. Ein Plan wird umgesetzt, der für den Menschen zwar nur fragmentarisch Kontur gewinnt, aber auf ein Größeres verweist. Intersubjektiv lässt sich eine Realität solcher Fügungen nicht aufweisen. Es gibt keine belastbaren, empirisch greifbaren Daten. Es gibt Dogmatismus und wohlmeinende Vermutungen und selbstverständlich gibt es Unverständnis bis zur Häme.

Ich kenne jemanden sehr gut, der mir aufgrund langjähriger Erfahrung glaubwürdig und dessen Rede mir glaubhaft ist. Er führte sinngemäß aus:


‚In meinem Leben hat es mehrere echte Weichenstellungen gegeben, die mir nachträglich als Fügungen vorkommen. Ich betone: nachträglich. Im Ereignismoment bzw. in der Ereignisphase kam mir nicht der Gedanke an eine Fügung. Teils waren es veritable Geschenke, die mir das Leben machte. Andernteils drückten mich Lasten, die mich sehr bis ganz in Anspruch nahmen. Das Leben führte mich an Problemlagen heran, u.a. sehr dicht, bis zur Todesangst, es überforderte mich jedoch nie, sondern alles endete letztlich in einer geistigen Förderung. In der Rückschau auf mein Leben kann ich nicht umhin festzustellen, dass sich mir mein Leben in den Grundlinien als Abfolge von Auseinandersetzungen darstellt, die ich als Bewältigung eines Programms einordne, das ich mir mit 14 Jahren rudimentär gegeben und mit dem Erwachsenwerden stetig konkretisiert hatte.


Nun könnte man mit einem kaum unterdrückten Lächeln einwenden, dass es dann, wenn man sich mit 14 ein Lebensprogramm gibt, das man dann auch über Jahrzehnte vollzieht, nicht verwunderlich erscheinen sollte, wenn man sein Leben als Vollzug eines Plans empfindet. Das Entscheidende ist, dass ich mich in höherer Hand aufgehoben fühle, in der Retrospektive, in den damaligen schwierigen Augenblicken war eine solche Empfindung nicht in mir. Zu solcher Retrospektive bin ich erst fähig, seit ich das erwähnte Lebensprogramm im Grundsätzlichen abgeschlossen habe.


Freilich konfrontiere ich mich mit dem Einwand: bei dir ist im Wesentlichen alles gut gegangen, das Unglaubliche an Glück, das du hattest, verleitet dich dazu, es zu einer Fügung zu stilisieren. Mein Glück konturierte zum einen eine für mich höchst günstige Ausgangsposition. Das Glück zum anderen, also soweit es mir anlassbezogen zuteil wurde, bestand in dreierlei Arten: in der bereits genannten Dosiertheit der Anforderungen, mit denen ich fertig werden musste; im Aufscheinen von Licht am Ende des Tunnels, wenn ich dabei war zusammenzubrechen; in der völlig unerwarteten Erfüllung ggf. Jahrzehnte zurückliegender tiefer Wünsche, was immer zu einem ungeheuren Erkenntnisfortschritt führte. Meine Freiheit erscheint mir nicht als verletzt. In der Tat erinnere ich zwar eine Begebenheit, in der ich gleichsam an einer Wahrnehmung gehindert worden bin, nämlich etwas nicht gesehen habe, obwohl es – eine Ansichtskarte – mir direkt vor die Augen gehalten wurde. Hätte ich den Text dieser Ansichtskarte in jenem Moment gelesen, würde sich mein Leben damals wahrscheinlich in höchst problemtischer Weise verändert haben. Dass meine Freiheit in Frage gestellt gewesen wäre, weise ich deshalb zurück, weil ich die Konstellation als Schutz für meine Freiheit deute, zu deren Ausübung ich damals in solcher Dimension wohl noch nicht stark genug war – ein Aufschub, der mir die Festigung meiner Autonomie, um die ich stets bewusst gerungen habe, ermöglichte. Eine unzulässige Förderung meiner Person auf Kosten anderer erkenne ich nicht.‘


Ich weiß es auch nicht.


Der Betreffende, den ich zu Wort habe kommen lassen, ist ein sensibler, hochgebildeter, lebenserfahrener Mann. Was er vorträgt ist wahrscheinlich nichts als seine Wahrnehmung. Ein bewusst geführtes Leben unter günstigen Umständen. Ein Einzelfall, freilich. Und doch. Es gibt viele ernsthafte Menschen, die das Phänomen der Fügung nicht a limine abweisen wollen, sondern es mit einer persönlichen Erfahrung verbinden.


Die Sinnhaftigkeit des Konzeptes eines Fügungen verwirklichenden und unterlassenden Masterplans müsste dargetan werden können. Die Gerechtigkeit bei Eingriffen von hoher Hand in das individualbezogene Geschehen müsste ebenso abgeklopft werden wie die Reichweite der Individualfreiheit. Welche Folgerungen wollte man aus der Annahme von Fügungen ziehen? Sollte es eine Einflussnahme des Individuums in Richtung auf Fügungen geben? Das spekulative Moment bliebe bei allem dominant. Achtsamkeit ist gefordert.