Geistiges Erwachen



„Erwacht“ ist, wer aus der Vernunft heraus lebt, wer die eigene Freiheit angenommen hat, also die Fähigkeit beherrscht, verantwortlich zu handeln.

Ein Leben, das sich gut und richtig anfühlt – in der Tat, das ist das Ziel.


Aber die – leider – meisten Menschen haben offenbar nicht eingesehen, dass gut und richtig zusammengehören, es geht eben nicht um das animalische ‚sich gut fühlen‘, sondern um das kulturell überformte sich ‚gut und richtig‘ fühlen. Es gibt beim Menschen unterschiedliche Ebenen des Sich-Wohlfühlens, die primäre animalische Ebene und eine Mehrzahl von Ebenen der Tiefenempfindung, die parallel geschaltet sind mit geistigen Gehalten, wertpyramidal gestaffelt. Sicher kann ein Individuum sehr viele geistige Kontrollen in sich selbst konturieren oder zum Schweigen bringen, aber die argumentative Kompetenz sowie seine Wahrheits-, Freiheits-, Liebesfähigkeit sowie seine Schönheitsempfänglichkeit haben ihn aus dem bloß Animalischen herausgehoben, ihm höhere Daseinssphären eröffnet. Der Mensch kann sich zwar vertieren, aber doch nicht Tier werden, also die Schlichtheit der bloßen Existenz erlangen, weil das Gewissen conditio humana ist, ein unauslöschlicher Charakter seiner Spezies. Der Mensch vermag sich der ethischen Bewertung nicht zu entziehen.

Abseitig ist es, wenn jemand meint, es müsse von außen kommen, dass sich das eigene Leben gut und richtig anfühlt – letzteres kann man sich nur selbst geben. Das müssen Menschen lernen. Schlimm ist, wenn man es ihnen nicht insoweit beibringt, als man die Grundlagen für das dazu nötige Verstehen legt. Es verursacht viel vermeidbare Verletzlichkeit bei den Betreffenden und noch mehr vermeidbare Verletzung bei anderen und anderem. Die allermeisten Erzieher aller Erdenzeiten haben insofern versagt, als sie sich nicht hinreichend bemüht haben, es selber zu verstehen, um es weiterzugeben. Zusätzlich tritt aber auch das Leben als Lehrmeister auf den Plan, jetzt hätte man als Individuum von ihm lernen können, aber auch das haben nur die wenigsten erbracht. Es ist abstoßend, wenn man jemanden vor sich hat, der seine Möglichkeiten verschleudert hat und dies dadurch zu kaschieren trachtet, dass er/ sie zwischen Larmoyanz und Tolldreistigkeit, zwischen Effekthascherei und Verschlagenheit und zwischen Feigheit und äußerster Brutalität changiert, anstatt sich zusammenzureißen und einen Selbststand einzunehmen, den er/ sie hinreichend begründen kann.

Egotaktiker, Nutzenmaximierer – alles nichts ohne Moral, nichts ohne Selbstachtung. Und Moral und Selbstachtung gibt es nicht zum Nulltarif, sie müssen argumentativ einlösbar sein und in Selbstdisziplin bewährt werden. Dabei finden Argumentation und Selbstdisziplin nun einmal in der Totalität des Wissens und eines Sinnpostulates statt: an einer Geistes- und Charakterbildung kommt man also nicht vorbei, sonst bleibt man ein schlaffes oder abgefeimtes, ein deprimiertes oder hyperaktives, ein blödes oder blasiertes, ein pampiges, ein gefährliches, usw. Arschloch. Abstoßende Sprache? Nein, allzu oft abstoßende Menschen. Abstoßend deshalb, weil es immer um dieselben Fehler geht, die andauernd mit einem wahnsinnigen Exkulpationsaufwand vertuscht werden sollen.

Freiheit macht Stress, aber eben nur demjenigen, der kein argumentativ abgesichertes Lebenskonzept und keine korrespondierende innere Haltung hat. Leider sind das die meisten Menschen. Das Leben ist es, das – unter anderem – Stress bereitet, dem Freien bedeutet dies Abenteuer und Bewährung: wer solche Haltung nicht einnehmen kann oder will, wird in diesem Leben keine innere Ruhe finden, kann nicht glücklich werden. Dem Gefühl der Geworfenheit kann man nicht auf befriedigende Weise begegnen, indem man sich entweder als Opfer von Verrat beziehungsweise Betrug oder als Täter ermächtigter Egomanie stilisiert oder als Mitläufer des Alltags nach dem Auskommen grapscht. Die Opferrolle lässt sich nicht ohne inneren Widerspruch durchhalten, weil man zu viele Geschenke durch das Leben erhalten hat und keine Ansprüche gegen das Leben begründen kann. Die Egomanenrolle lässt sich nicht ohne inneren Widerspruch durchhalten, weil man Bösartigkeit nicht als gerechtfertigt hinbekommt. Durch die Rolle des Dutzendmenschen blitzt immer wieder die Erkenntnis, sich nicht zur eigenen Individualität erhoben zu haben, selbstverschuldet im Grenzbereich zwischen Tier und Mensch herumzukrebsen. Glück, innere Ruhe, Achtbarkeit sind nur da möglich, wo innere Widersprüche der Lebensführung ausgeräumt sind. Demgegenüber verhindern Kämpfe, die wir alle durchzustehen haben, verhindert Leid, das kaum jemanden verschont, das Glück nicht. Wer das nicht versteht, sollte sich intensiv fragen, warum er/ sie das nicht versteht. Wer es versteht, sollte sich fragen, wieso er/ sie sich nicht an die Erkenntnis hält.