Zeit



In der Tat leben wir immer in der Gegenwart, der unmittelbaren des Jetzt und der mittelbaren, weil vergegenwärtigten aus Vergangenheit oder Zukunft. Es ist also immer nur das Jetzt – oder wie Seneca es formulierte: ein Tropfen Zeit –, das wir verlieren können. Aber dieses Jetzt, dieser Tropfen Zeit, ist angereichert mit den Erinnerungen und Erwartungen des individuellen Lebens, mit den Verpflichtungen, Be- und Entlastungen und Beglückungen unseres jeweiligen Daseins.

Damit unsere Zeit reich sein möge, erfüllte Zeit sei, ist darauf zu achten, sich selbst in Zucht zu nehmen: auf das äußere Geschehen haben wir nur sehr bedingt Einfluss, darauf, wie wir mit dem begegneten äußeren Geschehen umgehen, und welche Gestaltungen wir von uns aus vornehmen, dagegen viel. Das muss man verstehen, um zu einer sinnbewussten Lebensführung zu gelangen. Das Geheimnis erfüllter Zeit liegt darin, in welches Verhältnis wir uns zu unserer jeweiligen Zeit versetzen.

Es gibt nur eine Kompassweisung zu diesem Ziel erfüllter Zeit:


            Besinnen Sie sich und arbeiten Sie dementsprechend an sich selbst –
            dann ist Ihnen das Leben sinnvoll, reich und lang genug,

 

alles andere bewegt sich in der Irre, indem es dümpelt, in heiterem Wahnsinn verträllert, jammert, die falschen Schwerpunkte setzt oder sich zur Lebenslüge auswächst. Manche wissen, dass es sich so verhält; wissen könnten es alle.

Was ‚Sich-Besinnen‘ im hiesigen Zusammenhang heißt?
Ihr eigenes Leben erlangen Sie nur über Ihr eigenes Lebenskonzept. Im Kern geht es dabei um ein Handlungskonzept, das als Beschaffer eines gelingenden Lebens nur ein ethisches sein kann. Ethische Handlungskonzepte unterliegen dem Kriterium der Konsistenz, müssen also mit der regulativen Idee eines Richtigen arbeiten.

Was ‚dementsprechend an sich selbst arbeiten‘ im hiesigen Zusammenhang bedeutet?
Das eigene Handlungskonzept umsetzen. An der Verbesserung des eigenen Handlungskonzepts arbeiten, so lange es nötig ist. Handlungsstärke erlangen.

Was für ein Geschenk, dieses Zeit-Deputat, dessen Möglichkeiten wir zeitigen können.

Wieso schämen wir uns eigentlich nicht, unsere Zeit zu vertun und trotzdem darüber zu lamentieren, dass das Leben schwer sei und die Zeit teilnahmslos verrinne?

Warum ehren wir uns nicht dadurch, dass wir unser Leben so leben, dass wir mit Stolz unsere Vergangenheit erinnern können?

Sokrates war der festen Überzeugung, dass, wer um das Gute wisse, auch gut handeln werde. ‚Wissen‘ in diesem Sinne meint motivwerdendes Verstehen. Der intellektuelle Akt genügt nicht. Es ist immer der zweite Akt erforderlich: das Einschmelzen einer Erkenntnis in den jeweiligen Kontext individueller Selbstachtung.


Die meisten Leute bejahen dies. Wenn es dann aber zur Anwendung kommen müsste, versagen sie total. Sie haben sich eben doch nicht klargemacht, worum es dabei geht, und sie wenden es eben gerade nicht an. Und sie werden auch nicht glücklich. Sie begnügen sich mit einem auf Schein berechneten Leben. Ein erfülltes Leben jedoch muss Sinnenlust, Schmerz, Gier, Angst, Furcht bewältigen lernen, muss den Sprung vom Wissen zum Handeln über diese emotionalen Klüfte hinweg leisten können. Jede andere Behauptung beruht entweder auf mangelndem Verstehen oder ist gelogen. Es ist Verführung der Menschen, so viel Aufhebens um die Ethik und das glückselige Leben zu machen, wenn es doch im Kern nur darum geht. Kein menschliches Leben, das nicht nach Erfüllung streben würde; keine Erfüllung ohne das Bestehen von Proben – ohne Proben kann man sich nicht einmal selbst kennenlernen; kein menschliches Leben, das ungeprüft bliebe. Disziplin, die sich im Einzelfall erprobt und eine immer mehr gefestigte Haltung erzeugt, darauf läuft es hinaus: wenn man erkannt hat, dass etwas Bestimmtes getan werden muss, und einem dies unangenehm vorkommt, dann hat man sich auf die Ausführung zu konzentrieren unter Ablösung vom diese unmittelbar begleitenden Gefühl – man suhlt sich nicht in falschen oder unangenehmen Gefühlen – rechtes Tun bringt schließlich beste Gefühle hervor; bei prallem Füllhorn geht es um das Maßhalten; in der Normallage pflegt man die Parameter.


Das und nur das ist der Schlüssel zum Paradies erfüllter Zeit, ein mit sich selbst einiger Geist, in tiefem Denken und entschiedenem Handeln.