ab 9. Juni 2013 (fortwirkend bis heute, August 2022): der Tag, an dem sich Edward Snowden in einem Video-Interview mit dem britischen Guardian als Informant hinsichtlich der durch ihn seit Januar 2013 anonym in Gang gebrachten Enthüllungen zu den Überwachungspraktiken insbesondere der US-amerikanischen und britischen Geheimdienste zu erkennen gab

 

 (Nachweise zu den hier zu Snowden und Maaßen angeführten Fakten finden Sie etwa bei Wikipedia sub "Edward Snowden" - Stand 28.7.2019, 16:32 Uhr - sowie sub "Hans-Georg Maaßen" - Stand 22.7.2019, 11:22 Uhr)

 

 


                                       Verax

(Verax ist ein von Snowden selbstgewähltes Pseudonym; verax ist Latein und bedeutet wahrredend.)

 


Es spricht alles dafür, dass wir es hinsichtlich der genannten geheimdienstlichen Apparate, den US-amerikanischen Programmen PRISM, XKeyscore und Boundless Informant sowie dem britischen Tempora, de facto mit einem auf weltweite Ausspähung und Überwachung ausgerichteten Geheimdienstsystem zu tun haben.

 

Das war der Stand damals, Juni 2013. Heute - Juni 2022 - sind die technischen Möglichkeiten weiter verfeinert.

 

Effektive Kontrollmechanismen waren damals (Juni 2013) nicht eingerichtet und sind auch heute (Juni 2022) nicht überzeugend dargetan. Das Missbrauchspotential ist ungeheuerlich. Wenn es sich so verhält – wovon wir leider ausgehen müssen –, dann ist das alles rechts- und moralwidrig sowie in der Sozial- wie in der Individualdimension freiheitsgefährdend in höchstem Ausmaß.


An sich wahrlich ein Grund aufzuschrecken.

 

Dass der Fokus auf den Geheimdiensten der USA und Großbritanniens liegt, hat seinen Grund allein darin, dass sich die Ermittlungsergebnisse von Snowden auf diese beiden konzentrieren. Es wird nicht verkannt, dass andere Geheimdienste - mindestens - mit derselben Intensität agieren oder agieren würden, wenn sie dazu befähigt wären, wie diejenigen der USA und Großbritanniens. Es geht hier aufgrund des enormen digitalen Entwicklungsfortschritts um ein Menschheitsproblem - das ist die Dimension, die man erkennen muss: um die Kontrolle von Macht, die sich zunehmend schwieriger ausnimmt.


Wenn Sie, sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser, zu den Menschen gehören, die über derartige Verhältnisse ernsthaft besorgt sind, werden Sie geistig wach das Geschehen verfolgen und das Ihnen sinnvoll Erscheinende tun.


Wenn Sie zu den Menschen gehören, die das alles nicht anfasst, werden Sie sich selbst die Antwort nicht schuldig bleiben wollen, wieso es Sie kalt lässt. Weil es alles schon nicht so schlimm sei, weil Sie Ihrem Staat vertrauen? Weil Sie kein Terrorist seien, und das alles nur gegen Terroristen gerichtet sei? Weil sich gegen staatliche Übermacht sowieso nichts machen lasse? Weil Sie überhaupt anderes zu tun hätten? Wenn Ihnen diese Antworten genügen, werden Sie in dem daraus gewonnenen inneren Frieden nicht gestört werden wollen.

Edward Snowden hat durch seine Enthüllungen über die bis dahin der Öffentlichkeit nicht bekannten Programme zur Überwachung der weltweiten Internetkommunikation  den Möglichkeiten zur Beachtung der Menschenrechte einen größten Dienst getan. Er hat dafür seine bürgerliche Existenz aufgeopfert, sich und seine Lieben in Gefahr gebracht, den bitteren Weg der Flucht angetreten, finanzielle Interessen nicht verfolgt. Die offiziellen Stellen US-Amerikas – um nur auf diese zu schauen – betrachten Snowden jedoch als Straftäter … man jagt ihn. Ein früherer Direktor der CIA, James Woolsey, forderte im Dezember 2013 bei Fox News eine Anklage gegen Snowden wegen Hochverrats sowie dessen Hinrichtung im Falle der Verurteilung. Seitdem Snowden im August 2013 Asyl gewährt worden ist, lebt er inkognito in Russland.

Bei den Playern in diesem Szenario handelt es sich mit den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland

 

– nur diesen beiden Staaten soll hier das Augenmerk gelten, von Staaten wie China oder Russland ist in Menschenrechtsangelegenheiten zumindest vom Prinzipiellen her ohnehin kaum Menschenrechtswürdiges zu erwarten –

 

in der überwiegenden öffentlichen Meinung nicht um gebrandmarkte Systeme. Sicher, kein Staat könne im Machtmedium unschuldig bleiben, erst recht nicht die USA als Führerin der freien Welt. Aber man beschwört in diesem Zusammenhang Verfassungstraditionen, bringt eherne Begriffe wie Rechtsstaatlichkeit leicht über die Lippen, die BRD krönt ihre Demokratiedoktrin mit dem Fundamentalprinzip der Menschenwürde.

Je offener eine staatskriminelle Rechtsverletzung zutage liegt, um so dreister, kaltschnäuziger, schamloser übergehen Offiziale deren Tatbestand – das kennt man aus totalitären Systemen. Wie sich die USA und die BRD in besagter Enthüllungsaffäre verhalten muss höchst nachdenklich stimmen. Durch Snowden sind Menschenrechtsverletzungen horrenden Ausmaßes beweisbar geworden, die vorher abgeleugnet worden sind. Dafür wird Snowden als Krimineller verfolgt – schon an sich eine Groteske, logikwidrig, wertungswidrig


- der Staat tut etwas Gemeingefährliches (maßloses Datensammeln ohne hinreichenden Missbrauchsschutz), behauptet aber steif und fest, dies nicht zu tun – nun deckt einer das Lügenspiel auf und soll dafür bestraft werden – grotesk; wie soll man in einem derartigen Zusammenhang auf staatliche Selbstreinigungskräfte vertrauen? Der Verweis auf die staatlichen Verfahrenswege muss hier selbst als kriminell gewertet werden, da alle Erfahrung zeigt, dass man gerade keine Selbstreinigung, zu der Transparenz gehört, will.


Und die Mittel, die die USA bekanntgeworden einsetzen (Stichwort nur: die erzwungene Landung des bolivianischen Präsidenten Evo Morales am 2. Juli 2013; wie mögen sich erst die unbekannt gebliebenen Mittel ausnehmen?), um Snowdens habhaft zu werden, stellen Rechtsstaatlichkeit zumindest in den bösen Schein interessenbedingten Schwindels. Dagegen Asyl zu gewähren würde der Bundesrepublik Deutschland, wie jedem anderen Staat auch, gut zu Gesicht stehen. Zu argumentieren mit einer Gefährdung der Interessen der BRD dergestalt, die Beziehungen zu den USA nicht beeinträchtigen zu dürfen noch zu können, ist traurig: wie wertvoll ist denn ein Beziehungspartner, der sich derart verhält? oder zynisch: was können die USA denn Nennenswertes gegen die BRD tun, ohne sich noch weiter als machtgierig zu dekuvrieren? Schließlich die Argumentation mit dem Rechtfertigungselement ‚Schutz vor Terrorismus‘: Sicherheit zu gewährleisten ist fraglos eine eminente Staatsaufgabe, es ist aber offenbar geworden, dass es entgegen aller offiziellen Beteuerungen derzeit keine hinreichende Missbrauchskontrolle der betreffenden Geheimdienste gibt.


Nochmals: dass Geheimdienste effektiv wirken müssen, sollte klar sein. Worum es einzig gehen muss ist, dass eine effektive parlamentarische und – wesensbedingt beschränkte – gerichtliche Kontrolle der Geheimdienste einzurichten ist. Macht ist nie ein Spiel, hier hat alles seinen Preis, und alles kann in Bewegung geraten, die Möglichkeiten der Macht vollziehen sich über Kalkül bis Chaos, jederzeit mögen sie sich zu blutigem, schmerztriefendem Ernst aufrichten.

 

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die gebetsmühlenartig ins Feld geführte ‚Bedrohung der nationalen Sicherheit‘ als Tabu-Formel missbraucht wird. Wenn man es aufrichtig mit der Menschenwürde meinte, müsste man Snowden dankbar sein.

Die segensreichen Möglichkeiten moderner Kommunikationsmedien werden hier mitnichten verkannt. Es stellt aber ein ungeheures Ausmaß an Realitätsverlust dar, wenn der ‚moderne‘ Mensch so willfährig sein Privatum ausspäh- und manipulierungsoffenem Mobilfunk und Internet überantwortet, in den sog. ‚sozialen Netzwerken‘, in der ‚Cloud‘, bei der health care, indem man seine gesundheitsrelevanten Daten an eine Einrichtung (nur zunächst dorthin?) weitergibt, um dann per Signal zu bestimmten Verhaltensweisen angehalten zu werden,  wenn Spielekonsolen Audio- und Videodaten des häuslichen Bereichs an die Betreiberfirmen (nur zunächst dorthin?) senden, angeblich um die Computerspiele den Kundenwünschen gemäß zu verbessern, oder wenn die Blackbox im Pkw alle 30 Sekunden den Ort und Details des Fahrverhaltens an Versicherungen bzw. deren Subunternehmer (nur zunächst dorthin?) funken, um einen ‚gaaaanz‘ individuellen Versicherungstarif auflegen zu können. Orwells „1984“ haben solche Leute nicht verstanden.

Die Leute dagegen, die mit Macht etwas anzufangen wissen, haben Orwells „1984“ genau verstanden.

Aus dem, was personenbezogen in irgendeiner Form in den modernen Medien digitalisiert worden ist, lassen sich entsprechend genaue Profile der betreffenden Person anlegen; für Wirtschaftsspionage und die Bespitzelung von Regierungskritikern oder sonstiger personae non gratae ist das Instrumentarium von existentiell bedrohlicher Perfektion. Es ist also unabweisbar eine der dringlichsten politischen Aufgaben, die Vorkehrungen gegen Datenmissbrauch adäquat einzurichten. Snowden hat eklatanten Missbrauch aufgedeckt, der – so wird man vermuten müssen – weiterwuchern würde, hätte es diese Aufdeckung nicht gegeben. Zur Seite gesprochen: es bleibt abzuwarten, wie viel an Korrektur tatsächlich aufgrund der Aufdeckungen eintreten wird ... Stattdessen verfemt man seitens vieler Regierungsstellen Edward Snowden als Kriminellen und Verräter, bestenfalls als Whistleblower oder beschweigt ihn soweit als – im Medienzeitalter gerade noch – möglich. Wie passt das zusammen? Fällt Ihnen die Antwort schwer?

Edward Snowden hat Menschen zu wesentlichen Erkenntnissen verholfen, dabei sein eigenes Wohl hintangestellt; das war kein Herostratentum, er ist ein Held unserer Zeit.


Die Verantwortlichen in Medien und Politik, die sich nicht vehement für seine Freilassung eingesetzt haben und nicht einsetzen, haben versagt und versagen. An den Betreffenden perlt derartige Kritik ab, ohne Spur. Das ändert aber nichts. Dem Verdikt entgehen sie nicht.

Jetzt, während Sie dies lesen, befindet sich Herr Snowden in prekärer Lage. Die Freiheit, die ihm zusteht, wird ihm vorenthalten. Er lebt zumindest in geistig sehr bedrängten Verhältnissen.


Denn er lebt unter dem Damoklesschwert; jederzeit kann sich seine Lage gravierend verschlechtern

 

(Machen Sie das Gedankenexperiment: was würde geschehen, wenn er „plötzlich“ einen tödlichen „Unfall“ erlitte? – Richtig: zunächst jedenfalls nichts, einiges an Wortbekundungen, da und dort Betretenheit, aber unmittelbar nennenswerte Folgen? Nein. Keine glaubwürdige Aufklärung der Todesumstände. Vielleicht Märtyrerstatus, mit der Zeit ein Hellerwerden im Bewusstsein der Vielen, vielleicht, nach längerer Zeit.)

 

(Fraglich ist freilich auch, welchen Preis Snowden für sein Asyl zu zahlen hat. Putin erscheint aufgrund seines Politikstils nicht als der Mann, der etwas ohne Gegenleistung, zumindest nicht ohne starkes Eigeninteresse gewährt. Schließlich ist Snowden ein äußerst fähiger Informatiker und im Besitz brisanter geheimdienstlich relevanter Informationen. Entweder war Snowden russischer Spion - was hier nicht angenommen wird, dazu unten -, oder er wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Druck ausgesetzt worden sein. Vielleicht geht Putins Kalkül dahin, sich mit den Wirkungen, die Snowdens Enthüllungen hervorgerufen haben, nämlich eine politische Vertrauenskrise in den westlichen Nationen sowie eine gewisse, jedenfalls aber nicht als hoch zu veranschlagende, Beeinträchtigung der Arbeit der dortigen Geheimdienste, zu begnügen, und zwar deshalb, weil er Snowden öffentliche Auftritte ermöglichen muss, will er vor der Weltöffentlichkeit glaubwürdig erscheinen, die jedoch entgleisen könnten, wenn er auf Snowden zuviel des Drucks ausüben würde; außerdem hatten die US-Amerikaner hinreichend Zeit, ihr geheimdienstliches Informationssystem abzuschotten, so dass Putin wohl so viel Honig aus Snowden nun auch nicht mehr hätte saugen können; schließlich kann sich Putin als Wahrer der Menschenrechte zelebrieren. Möge Snowden solches Glück zuteil geworden sein.).

 

Und er lebt in einer Atmosphäre verweigerter Achtung. Sicher hat er zahlreiche und bedeutende Ehrungen erfahren,

 

unter anderem 2014 den Alternativen Nobelpreis und die Carl-von-Ossietzky-Medaille erhalten. Es sind Filme über ihn gedreht (herausragend: Citizenfour von Laura Poitras, der 2015 den Oscar als bester Dokumentarfilm gewann) und Bücher über ihn verfasst worden (herausragend: The Snowden Files: The Inside Story of the World's Most Wanted Man von Luke Harding und Time of the Octopus von Snowdens russischem Anwalt Anatoly Kucherena). Auch gibt es wahrlich eine große Zahl von Menschen, die durch ihn sensibilisiert worden sind und ihm Bestes wünschen. Aber die politisch wirksame öffentliche Meinung und die maßgebende politische Macht selbst verweigern ihm das ihm Zustehende. Man muss sich das klarmachen: die verantwortlichen Politiker der sogenannten ‚freien Welt‘ schützen diesen Mann nicht. Wir in der Bundesrepublik Deutschland haben die Menschenwürde  - zu Recht - in das Zentrum unseres Gemeinwesens gerückt – und, was tun die verantwortlichen Politiker?

 

Und er lebt unter nur schwer aufrecht zu haltender Hoffnung auf Besserung seiner Situation; denn

 

er hat der realen Macht die Maske herunter gezogen, und das mag man nicht, man mag es nicht, wenn die Show-Kreise durchbrochen werden, deshalb wird man ihn jagen, und weil es gilt, potentielle Nachahmer abzuschrecken. Nota bene: weil man weitermachen will, wie bisher - so drängt es sich auf, denn wenn man sich in Zukunft korrekt verhalten wollte, bedürfte es der Hexenjagd nicht, man hätte dann nicht einmal Whistleblower zu fürchten, weil diese grundsätzlich zunächst den Weg der innerbehördlichen Selbstreinigung versuchen. Die Unerbittlichkeit der Jagd auf Snowden ist ein äußerst starkes Indiz dafür, dass man von interessierter Seite keine systemische Änderung will, hat Snowden doch nichts anderes getan, als die rechtswidrigen Gebrauchsweisen des Systems offen zu legen.

 

Muss man nicht innehalten bei dieser schrecklichen Erkenntnis? Wie weit sind wir denn in unserer Zivilgesellschaft? Wir sind nicht sehr hoch entwickelt.

 

So sei das eben mit Helden, sie seien auf sich gestellt, auch einsam. Sie stünden über den Möglichkeiten der Menge, hätten ihren eigenen Weg, dem andere so nicht folgen könnten. Dafür hätten sie ein gutes Gewissen und den Ruhm. Snowden habe wissen müssen, worauf er sich eingelassen hatte.

 

Aber nach dem Sozialstaat ruft man, nach Gott und allen Hilfen …

 

Mir geht es nicht in erster Linie um den ‚normalen Bürger‘, dessen Bewirkungsmöglichkeiten waren und sind beschränkt. Sicher könnte man heute durch Demonstrationen und Petitionen Einfluss nehmen, aber in der Tat ist der Massenmensch nur bedingt zu bewegen – und das ist auch akzeptabel, da ein jeder sein/ ihr eigenes Lebenspaket zu schnüren hat. Dafür hat man zulässiger Weise in der Demokratie den Politiker und die Politikerin gewählt, die es gegen stolzes Entgelt und aus sonstigen höchstpersönlichen Motiven übernommen haben, ein dem Grundgesetz gemäßes Gemeinwohlprogramm umzusetzen. Sie haben ihre Pflicht und Schuldigkeit zu erfüllen.

Es kann keine Frage sein, dass eine Zivilgesellschaft, die Snowden achtete, gewinnen würde. Anders gewendet: es kann eben so wenig eine Frage sein, dass eine Zivilgesellschaft, die Herrn Snowden die Anerkennung verweigert, Schaden nimmt. Schweigen aus Angst vor internationaler oder sozialer Isolation, aber eben auch vor Suppression, wirkt zersetzend. Es sind in diesen Big Brother – Konstellationen vor allem Schweigen und Lügen, die Menschen in Gefahr bringen. Die Politik könnte im Fall Snowden ein deutliches Zeichen setzen; und sie tut es ja – eben nur anders als sich das ein guter Charakter erwartet. Glaubwürdigkeit und Ansehen der Politikverantwortlichen sind deutlich gemindert, interessieren wird das diese Leute kaum, solange sie ihre Positionen behalten – denn sie sind nicht zur Gemeinwohlorientierung vorgedrungen.

 

Im Juni 2016 spekulierte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Dr. Hans-Georg Maaßen vor dem NSA-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, dass Edward Snowden ein russischer Spion sein könnte.

 

Man erinnert sich: Maaßen ist der Mann, der als Referatsleiter im Bundesinnenministerium im Herbst 2002 zu klären hatte, ob der im US-Gefangenenlager Guantánamo festgehaltene Murat Kurnaz nach Deutschland zurückzuholen sei oder nicht. Maaßen lehnte mit der Begründung ab, dass Kurnaz' Aufenthaltsrecht in Deutschland verfallen sei, da dieser mehr als sechs Monate außer Landes gewesen sei und sich nicht bei den zuständigen Behörden gemeldet habe. Dabei war Kurnaz bereits, wie Maaßen wusste, länger als sechs Monate in Guantánamo festgehalten worden. Gerichtlich wurde später festgestellt, dass die Aufenthaltserlaubnis von Kurnaz, der unschuldig in Guantánamo einsaß, selbstverständlich nicht erloschen war. Man erinnert sich auch: Maaßen ist der Mann, der im April 2014 als Präsident des Verfassungsschutzes Snowden als "Verräter" anprangerte.

Maaßen war Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz von August 2012 bis November 2018.

 

Selbst der US-amerikanische Geheimdienst hat eine Vermutung dahingehend, Snowden sei russischer Spion, nie offiziell vertreten.

Sicher: als Unbeteiligter formt man seine Beurteilungsbasis nur aus den Medien. Aber das zur Veröffentlichung gebrachte Gesamtgeschehen spricht gegen die Spionage-These: ein Spion arbeitet im Verborgenen und saugt solange Informationen zugunsten der ihn entsendenden Macht ab, wie irgend möglich - dass Snowden vor der Enttarnung gestanden habe, als er sich outete, ist gerade nie vorgetragen worden, ganz im Gegenteil: Snowden hätte weiter im US-amerikanischen Geheimdienstsystem in der allervordersten Reihe informationstechnisch wirken und so für die russischen Dienste höchste Erfolge einfahren können. Auch schert sich ein Spion nicht um Öffentlichkeit, das Herantreten an den britischen Guardian und der sich anschließende Aufklärungs-Kreuzzug sind im Spionage-Geschäft untypisch, solange noch die originäre Informationsquelle ergiebigst sprudeln könnte. Die spektakuläre Flucht mit ihren vielen Unwägbarkeiten passt ebenfalls nicht in das Spionage-Bild, die Russen wären fähig genug, einen für sie derart bedeutenden Informationsträger still und unerkannt aus jedem Land, auch aus den USA, zu schaffen. Schließlich erscheint die Spionage-Erwägung mit der Vita von Snowden, seiner gezeigten Einsatzbereitschaft für sein Land, nicht vereinbar, denn ein Punkt, an dem er 'umgedreht' worden wäre, ist nicht ersichtlich. Gegenhalten kann man meines Erachtens nur noch mit dem Gedanken, die russische Seite habe einen Coup landen wollen, um westliche Regierungen zu desavouieren und zu destabilisieren, Spionage kombiniert mit gesellschaftlicher Sabotage also das Ziel gewesen seien. Freilich ist das denkbar, aber aus den vorgenannten Gründen eben nicht wahrscheinlich.

Vor einem solchen Hintergrund erwiesenen staatskriminellen Verhaltens sowie gegenüber einer solchen Lebensleistung, wie sie Snowden mit hoher Wahrscheinlichkeit erbracht hat, darf man den Spionage-Vorwurf nicht erheben, wenn man nicht stichhaltige Belege bei der Hand hat - das tut man einfach nicht ... Maaßen muss das alles wissen. Audacter calumniare, semper aliquid haeret (Plutarch) - Verleumde nur dreist, es bleibt immer etwas hängen. Verleumdung ist ein schleichendes Gift, eine Person oder ein Anliegen zu zersetzen. Das also ist das Charaktermaterial, welches dazu qualifiziert, Chef des Deutschen Verfassungsschutzes zu werden und zu sein.

 

Nun lassen bestimmte Ausprägungen von sog. Realisten, nämlich solche, denen bei der Konzentration auf die Maßgaben für Interessenmaximierung das Ethos verkümmert ist, süffisant fallen, dass Charakter keine politische Kategorie sei. Soweit sie des eigenen oder eines außerstaatlichen Vorteils wegen kriminell sind, verdienen sie als Abschaum keine Auseinandersetzung. Aber es gibt auch in jener Gruppierung Leute, die der Ansicht sind, dass man um des Gemeinwohls (ihres Staates) willen zum Bösen bereit sein müsse. Es geht um die Spielarten der Lehre von der Staatsräson, eines extralegalen Legitimationstitels sui generis für Eingriffe von hoher Hand. Im hiesigen Zusammenhang würde man etwa anführen: Die Möglichkeiten der IT auf dem Überwachungssektor nicht auszuschöpfen, also das technisch Mögliche nicht weiter voranzutreiben, und es nicht anzuwenden, sei nicht nur dämlich, sondern auch unverantwortlich, da andere Geheimdienste und das Verbrechen derartige Skrupel nicht kennen würden, man also im ewigen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen unweigerlich ins Hintertreffen geraten würde. Auf das erste Vernehmen hin lässt sich eine solche Aussage durchaus hören. Ihre Achillesferse jedoch ist, ob die Weisheit des Maßes auf kontrollierbare Weise sichergestellt ist - und das ist derzeit (Juni 2022) definitiv nicht überzeugend dargetan. Wir sind damit unausweichlich beim "guten Charakter", also einem Menschenwürde achtenden Ethos, derjenigen, die die Kontrollbindung lealistisch handwerklich aufsetzen sowie derjenigen, die die Bindungsvorgaben bei der Geheimdiensttätigkeit einzuhalten haben.

Die Wölfe im Schafspelz diffamieren den "guten Charakter" auf dem Feld der Konflikte als von machtloser Ehrlichkeit und reklamieren für sich die Tatkraft zum Notwendigen: das ist die Legendenbildung, die es erleichtert, Konfliktbewältigung als "schmutziges Geschäft" (, mit allerdings lukrativem Potential,) im Dunkel und hoffähig zu halten.


Mit dem - sehr sehenswerten - Spielfilm Snowden von Regisseur Oliver Stone (Start in Deutschland: 22.9.2016) hat es ein gewisses Aktualisierungsmoment gegeben, aber es zeigte sich, dass die Bevölkerung politisch nicht mitzieht. Rufe in einer geistigen Wüste ändern die große Stille letztlich nicht, im Gegenteil: sie machen sie um so schmerzlicher erfahrbar.

 

Snowden hat in Deutschland im September 2019 seine Autobiographie mit dem Titel „Permanent Record. Meine Geschichte“ (S. Fischer – Verlag) vorgelegt. Das Werk ist informativ. Sensibel und eingängig beschreibt er die Stufen, Methoden und den Machtmissbrauch der weltweiten Datennutzung durch die US-Geheimdienste. Er setzt als Dreh- und Angelpunkt für diese Entwicklung 9/ 11 an, sowohl hinsichtlich der angeblich danach einsetzenden US-Geheimdienstaktivität, als auch bezüglich seiner eigenen Haltung, für die Vereinigten Staaten von Amerika mit seinen persönlichen Möglichkeiten einzustehen, bis ihm dann die Tabulosigkeit der digitalen Staatskriminalität der USA bewusst geworden sei und ihn zum Umdenken gebracht habe.

Erstaunen muss, dass er mit keiner Silbe das offizielle Narrativ der USA zu 9/ 11 thematisiert. Er sieht, was die USA aus 9/ 11 gemacht haben, er sieht, was 9/ 11 mit ihm gemacht hat, aber er lässt die US-Staatsversion zu 9/ 11 gänzlich unerörtert. Es ist verstörend, wenn jemand in der Autobiographie das eigene Leben von Kindesbeinen an reflektiert, aber der crucial point als solcher – in der eigenen Vita wie in der weltweiten Dimension seines Themas – von der sonst gegenwärtigen Reflektion ausgenommen wird, obwohl einem denkenden Menschen die Fragwürdigkeiten der US-Staatsversion zu 9/ 11 offenbar sein müssen (man denke nur an den öffentlichen Diskurs beginnend etwa mit dem Werk von Andreas von Bülow: Die CIA und der 11. September. Internationaler Terror und die Rolle der Geheimdienste, München 2003, bis – als derzeit [Juni 2022] aktuellst gefasstes Fragezeichen – an die am 3.9.2019 erfolgte Veröffentlichung eines Gutachtens der Universität Alaska Fairbanks (UAF) durch Leroy Hulsey, wonach am 11.9.2001 in New York Feuer WTC 7 definitiv nicht zum Einsturz gebracht haben kann).

 

Andere Themen stehen im Medien-Fokus. ‚Aussitzen‘ ist ein probates Mittel von – zumeist und jedenfalls hier: schlechter – Politik. Snowden hat der Politik eine enorme Vorlage geliefert, und sie hat sie bewusst nicht verwandelt.