Gespräch über "das Gute"

 

 

Nachstehend ein Gespräch, das sich in der Wirklichkeit so nicht ereignen würde, weil es die social correctness nicht einhält und deshalb alsbald abgebrochen würde. Es ist aber lehrreich unter zwei Aspekten: einmal bringt es das ethische Grundproblem des Guten auf den Punkt und zum anderen zeigt es auf, wie sehr wir soziale Komments und Denkmuster einsetzen, um uns um das Eigentliche eines Problems herumzustehlen. Da die Person, die diese Website an hiesiger Stelle nutzt, für sich alleine ist, sich in der Rolle des Betrachtens befindet und also selbst dosieren kann, wieweit sie sich einlässt, sei der fiktive Disput angeführt.

 

 

Mit einer Prise Häme: „Das Gute – was soll denn das sein?“

„Wissen Sie das nicht? Wissen Sie das wahrlich nicht? Sie können denken und werten – und Sie wissen nicht, was das Gute ist? Machen Sie sich eigentlich klar, was für eine geistig-moralische Bankrotterklärung Sie hier abgeben?

Sind Sie denkfaul und/ oder entscheidungsschwach?

Mit Ihrer Freiheit können Sie offenbar nicht umgehen.“

„Was … bilden Sie sich ein – mich so anzugehen!“

„Sie erfassen offenbar nicht, was für ein Ausmaß an Zumutung es darstellt, wenn ein freier Mensch nicht in der Lage ist anzugeben, was er/ sie als das Gute ansieht. 

Wie lebt denn ein solcher Mensch, wonach steuert er sein Verhalten?“

„Ich lasse mich doch nicht von Ihnen schulmeistern, ja … beschimpfen.“

„Freiheit ist Macht. Es ist die Macht, das eigene Verhalten zu steuern. Sie, ein jeder, ist verantwortlich für das, was er/ sie tut oder unterlässt. Andere Menschen, die belebte wie die unbelebte Natur, Dinge, Verhältnisse, Sie selbst sind abhängig von Ihrer eigenen und fremder Verhaltenssteuerung.

Und was machen die Leute aus diesem Vermögen der eigenen Verhaltenssteuerung?“ 

„Es ist schwierig. Aber viele bemühen sich schon.

Man hat als Mensch so mannigfaltige und gegebenenfalls so überraschend auftretende und teils so schreckliche Probleme zu bewältigen …

Und überhaupt gibt es genug Wissenschaftler, die sagen, dass Freiheit eine Illusion sei. Schließlich: wieso vermengen Sie das Freiheitsthema mit der Frage nach dem Guten?“

„Wenn wir nicht frei wären, stellte sich uns die Frage nach dem Guten überhaupt nicht.“

„Wieso?“

„Weil man auf Verhaltens-Alternativen und -Varianten nur kommt beziehungsweise nur wählen kann, wenn einem die Situation als unterschiedlich handhabbar überhaupt in den Blick gerät. Wer verhaltensfixiert ist, kann nicht in Alternativen oder Varianten denken. Die höchste Abstraktionsstufe für die Frage, was man denn nun tun bzw. unterlassen soll in einer konkreten Situation, ist zwingend die Frage nach dem, was gut, was richtig ist.“

„Und wenn Freiheit nur eine Illusion sein sollte?“

„Wenn die Freiheit eine Illusion darstellt, dann auch das Gute (im Sinne eines individualrelevanten Problems). Aber kein Mensch weiß, ob das der Fall ist oder nicht. Es ist wichtig zu erfassen: kein Philosoph und kein Hirnforscher oder sonstiger Wissenschaftler hat den Beweis erbracht, menschliche Freiheit als Illusion zu entlarven. Desgleichen gibt es kein Wissen davon, ob Individualfreiheit real ist, das menschliche Erfassungsvermögen überschreitet die conditio humana schlicht nicht: einen Punkt außerhalb unserer selbst, der uns die Letztbeurteilung dieses Problems verschaffen könnte, vermögen wir nicht einzunehmen. Es gibt nur Vermutungen. Worauf es ankommt ist also, diese Vermutungen auf ihr Gewicht hin zu überprüfen. 

Es lässt sich nicht leugnen, dass wir Menschen Denk-, Wertungs- und Entscheidungskraft empfinden und im Rahmen unseres Erfahrungshorizontes auch wirkungsvoll ausüben. Ferner lässt sich nicht leugnen, dass wir Menschen aufgrund neu gewonnener Erkenntnisse unsere Entschiedenheit selbst neu ausrichten können. Wir erleben uns als frei, wir erleben andere als frei. 

Gegen dieses Selbstempfinden macht man eine Täuschung geltend, der wir unterliegen würden: es sei nicht unser Werk, das wir schafften, es sei nicht unser Verzicht, den wir übten, es sei nicht unsere Straftat, die wir begingen, etc., vielmehr laufe in uns ein Programm ab aufgrund des Kausalnexus, dem wir wie alle Natur unterlägen, ohne dass wir dies bemerken würden. Wie gesagt, es gibt zur Freiheitsfrage nur Denkmodelle, keine Eindeutigkeit. Letzteres Denkmodell leidet unter einem unannehmbaren Nachteil: es gibt keinen sinnvollen Grund für das Täuschungsmoment, mit dem uns die blinde Natur angeblich überzieht – ohne einen solchen Grund aber ist die radikale Entwertung menschlicher Existenz, die mit dem in Rede stehenden Denkmodell einhergeht, nicht schlüssig. Offenbar „will“ man die mit Geist eigener Spontaneität verbundenen Konsequenzen abschütteln, wie Verantwortung, Seele, Gott, oder wie auch immer man letztere Phänomene bezeichnen mag. Jedenfalls wäre ohne Freiheit individualbezogen die menschliche Existenz sinnlos, vielleicht sinnvoll für andere Entitäten, nicht aber per se: der geworfene Stein, der sich einbildet, er könne fliegen – lächerlich. Auf die Vorstellung vom Menschen als Bioautomaten lässt sich eine erfüllte Individualexistenz nicht gründen und nicht durchhalten.

Mangels schlagkräftigen Gegenargumentes dürfen wir also von der grundsätzlichen Freiheitsfähigkeit des menschlichen Individuums ausgehen. 

Da jedoch zum einen so viel abhängt von der Freiheitsausübung der Einzelnen, und zwar für alles, was mit Menschen in Berührung gerät, und zum anderen die Wirksamkeit individueller Selbststeuerung aufgrund unserer Lebenserfahrung nicht abgetan werden kann, sollten wir sogar von der grundsätzlichen Freiheitsfähigkeit des menschlichen Individuums ausgehen: individualbezogen für das eigene Werterleben, sozialbezogen für die Art der Einwirkung auf und die Art der Sanktionen gegen Individuen zum allgemeinen Wohl.

Kommen wir deshalb zurück zu meiner Frage, was die Menschen denn nun aus ihrem Freiheitsvermögen machen. Die allermeisten Menschen stoßen überhaupt nicht zum Bewusstsein der eigenen Freiheit vor, geschweige denn, dass sie ihre Freiheit kultivierten. Die einen leben unter heteronomen Vorgaben durch Raum und Zeit dahin und greifen gegebenenfalls bei Gelegenheit eine verbotene Frucht ab. Andere setzen Freiheit fälschlicher Weise mit biologistischem Wohlbefinden gleich, das sie gierig erstreben. Sie arbeiten bauernschlau bis brutal an ihren eigenen Vorteilen und verfeinern dabei durchaus auch ihre Lebenskunst, aber zur Freiheit dringen sie nicht vor, da Verantwortung, die zur Freiheit gehört wie die andere Seite einer Medaille, nicht ausgelotet wird: Freiheit ist Anwendung des regulativen Prinzips von Verhaltensrichtigkeit, das eigene Verhalten von anderem als Richtigkeit abhängig sein zu lassen ist gewählte Unfreiheit.

Und jetzt frage ich Sie: ist das nicht abstoßend, und: ist das nicht schimpflich?“ 

„Sie verlangen zu viel. 

Das ‚Gute‘ ist doch ein Problem der Ethik seit Jahrtausenden. Damit sind schon große Geister nicht fertig geworden, außerdem leben wir glücklicher Weise in kulturellem Pluralismus, wo man das Diktat vorgeblicher Wahrheit durchbrochen hat.“

„Brav auswendig gelernt, die Zeremonienmeister des sozialen Komments unserer Zeit sind mit Ihnen zufrieden. Sie haben die Essenz dessen, was Sie in Ihrer letzten Erwiderung vortragen, nicht verstanden, Sie bringen Aspekte zusammen, die nicht zusammengehören und Sie stellen sich meinen – ja – Vorwürfen nicht, vielmehr weichen Sie einem allgemein verbreiteten Denkmuster entsprechend aus.“

„Sie sind zumindest … anstrengend.
Aber ich will das jetzt genau wissen. Gehen wir Punkt für Punkt durch.

Zunächst: was maßen Sie sich an, mir einen Vorwurf zu machen?“

„Als Mensch sind Sie ein Wesen, dass sein Verhalten selbst steuern kann. Dann ist es nicht nur grotesk, sondern auf das Schlimmste vorwerfbar, wenn Sie als freier Mensch nicht sagen können, was Sie als das Gute ansehen. Sie können nämlich Ihr eigenes Verhalten nicht verlässlich steuern, wenn Sie nicht über Ihr eigenes Richtigkeitskonzept verfügen.“

„Mal soweit dahingestellt ...
Und was soll ich jetzt nicht verstanden beziehungsweise falsch verquickt haben?“

„Aufgrund der Schwierigkeit, das Gute dingfest zu machen, wird das Individuum ebenso wenig von der Aufgabe entlastet, für sich selbst dazu Klarheit zu schaffen, wie durch den Pluralismus. Freiheit bedeutet, eine Wahl zu treffen. Was man wählt, oder ob man sich nicht zur Wahl aufrafft, unterliegt der Richtigkeitsbeurteilung. Wenn man sich verhält und überzeugt davon ist, dass es richtig, gut, sinnvoll, vernünftig, geboten, angemessen, etc. ist, wie man sich verhält, kann man dies begründen und unterliegt dabei dem Kriterium des besseren Argumentes. Wenn man sich verhält und keine Meinung dazu hat, ob man sich situationsbezogen passend verhalten hat oder nicht, oder einem sogar einsichtig ist, dass es verfehlt ist, was man da tut, dann unterliegt man desgleichen der Richtigkeitsbeurteilung, einer begründungsgetragenen Bewertung, ausgerichtet am besseren Argument. Dieses Richtigkeits-Argumentieren arbeitet aus der Konsistenz eines Gesamtsystems von Wertungen. Dabei gestattet die Freiheit jedem Individuum, die Höchst- und Eckwerte selbst zu setzen, um dann das eigene Gesamtwertesystem konsistent darum herum zu konkretisieren. Das ist die Aufgabe, die das Phänomen der Freiheit dem Menschen stellt. Intellektuell schwierig ist diesbezüglich nur der Part zu erfassen, dass man die Probleme der Freiheit als von der Wertungsfreiheit her aufzurollen begreifen muss. Dann lösen sich die Konflikte zwischen Freiheit und Wahrheit, dem Richtigen, dem Guten, über zum einen die Beachtung von Tatsachen oder zum anderen die Vertretbarkeit von Wertungen. Dass jedes Individuum sein/ ihr eigenes Wertesystem haben kann, darf und soll, ist weder ein zu großes Wagnis noch eine übermäßige intellektuelle Anforderung: die innere Widerspruchsfreiheit des Systems ist Korrektiv und Anregung, Werte organisch zu setzen, genug. Einem Wunder scheint es dagegen gleichzukommen, überhaupt zur Freiheit zu erwachen, und herkulisch dann erscheint die Selbstdisziplin, die Gebote der Freiheit zu erfüllen; recht besehen ist letzteres beides als überzogen befremdlich:

zwar wissen offensichtlich nur verschwindend wenige Menschen mit ihrer Freiheit umzugehen, die allermeisten Menschen verfügen tatsächlich nicht über den hier vertretenen, stringenten Begriff von Freiheit und bleiben Zeit ihres Lebens in geistige und affektive Abhängigkeiten der unterschiedlichsten Art verstrickt. Dieser Befund nährt das Geschwätz von ,Freiheit als Illusion‘ oder ,Freiheit als Herkulesarbeit‘. Dabei ist es vom Prinzipiellen her doch biereinfach: man hat als Individuum nur darauf zu achten, dass man sich bewusst ist, was man tut, vor sich selbst als richtig begründen kann, was man tut, und deshalb will, was man tut. Es werden also lediglich Freiheit und Verhaltensrichtigkeit gekoppelt, was aufgrund des Korrelates von Freiheit und Verantwortung ohnehin angedeutet ist. Allerdings geht es nach hier vertretener Sicht primär um Selbstverantwortung, die zudem deutlich fordernder ist als die Fremdverantwortung (vor Staat, Familie, Freunden, Kollegen, etc.), da sie letztere gerade auch auf ihre Berechtigung hin vor dem forum internum überprüft. Abgekoppelt wird dagegen das Freiheitsverständnis von einer vordergründigen Wohlfühligkeit (also Außenwelterfolg in Geld, Reputation, Einfluss, Orgiasmen, Abwesenheit von Schmerz, etc.), was weder die Annehmlichkeiten des Lebens noch dessen Schrecknisse schmälern, aber die Gelassenheit hervorbringen soll, die einem dem irdischen Tod unterliegenden Wesen mit doch recht kurzer Hochpotenzspanne eignen müsste. Sicher, diese vom Prinzipiellen her schlichten Freiheitskriterien sind in der Umsetzung gegebenenfalls äußerst schwierig. Aber wofür wollen Sie denn Ihre Lebenskraft einsetzen, wenn nicht dafür? Was können Sie denn als höherwertig begründen? Ich sage Ihnen: nichts! Versuchen Sie es doch einmal, so zum Spaß, argumentativ werden Sie es widerspruchsfrei nicht schaffen.

Man will den Menschen manipulierbar. Man will nicht, dass Freiheit und Richtigkeit in eins gestellt werden. Man will, dass die Individuen Vorgaben erfüllen und damit ihre Individualität schwächen. Wo käme man denn hin, wenn die einzelnen Menschen anfangen würden, alles nach Richtigkeitskriterien zu hinterfragen und ihr Verhalten danach ausrichten würden, dass es begründet als richtig haltbar wäre?

Wer ist dabei eigentlich „man“? Grundsätzlich alle, die sich in Herrschaftspositionen befinden. Sie befeuern Grundbefindlichkeiten der biologistischen Seite des Individuums, nämlich Gier und Angst, wobei die Angst eine Dienerin der Gier ist. Das vollzieht sich auf allen Lebensgebieten. Besagtes „man“ sind aber eben leider auch die meisten Menschen sich selbst gegenüber, nicht kraft bewusst getroffener, eigener Entscheidung, nicht aufgrund Durchdenkens ihres personellen Seins, sondern in Verhaftung an ihre biologistische Grundstruktur, die sie aber – und das ist vorwerfbar – überdeterminieren könnten und müssen, wenn sie frei sein wollen.“

 „Was ist denn nun das Gute?“

„Das Gute bezeichnet sowohl definitive, materiale Positionen als auch ein regulatives Prinzip. Freiheitsausübung unter der Wahrheit zielt auf das Gute. Das Maß für Interessendurchsetzung ist stets die Macht, egal ob sie auf Gewalt, Täuschung, psychologischer Finesse, etc. beruht. Das Maß für das Gute ist allein die Wahrheit.

Das Gute ist nur die warmherzige Formulierung für Richtigkeit auf einer hochabstrakten Ebene. Die Wahrheit achtet dabei sorgsam auf die Tatsachenfeststellungen in Abgrenzung zu Wahrscheinlichkeiten, Vermutungen, Wünschbarkeiten, Postulaten und auf die Vertretbarkeit von Wertungen. Wahrheit bezeichnet also ebenfalls sowohl definitive, materiale Positionen als auch ein regulatives Prinzip, in doktrinärem Missbrauch ist Wahrheit ein Widerspruch zu sich selbst.“