Erwachen



Das Leben ist eine ungeheure Energie, es schenkt und es stürzt, einige Gesetzmäßigkeiten meinen wir, erfasst zu haben, das Meiste aber ist Geheimnis.


Letztlich sind es zwei Grund-Prinzipien, die wir aus dieser Lebensenergie abstrahieren: ein grundierendes und ein ordnendes Prinzip, verschwenderische Hervorbringung und konzentrierendes Maß, Trieb und Geist. Wir verfügen weitgehend nur über Plausibilitätserwägungen, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt.


Wo der Mensch die geistigen Kräfte nicht oder nicht nennenswert kultiviert, bleibt er/ sie bloßer Teil der Abläufe von Leben: triebhaft im Schlimmen, triebhaft im Guten – bedauernswert, weil im Geist unerwacht. Auch das hyperthrophierende Intellektualisieren der Fragwürdigkeiten des Lebens sowie das zu Abständigkeit oder Exzess exaltierende taedium vitae gehören hierher, weil sie sich trotz der erlebten beziehungsweise zumindest erlebbaren Realität des Schönen und Guten des Maßes nicht vergewissert haben und deshalb in ihrer Haltlosigkeit wohl leider in vielen Fällen bloß pubertäre Verweigerungen der Anstrengungen des Lebens sind.


Die Verweigerung, das Schöne und Gute des Lebens an sich heran- und zu seinem Recht kommen zu lassen, ist in seiner Undankbarkeit frevelhaft und führt zu Vermessenheiten, die ein abgewogenes Urteil ausschließen.


Es ist schon viel, aber es reicht nicht, zu Verstand zu kommen. Wer bestenfalls zu Verstand gekommen ist, bleibt bloßer Teil der Abläufe des Lebens. Er/ sie verbessert durchaus die eigene Wirksamkeit, aber im Rahmen des Biologismus. Er/ sie bleibt Rudelwesen, wird nicht zum Individuum; konzentriert sich auf instrumentelle Nützlichkeit und unmittelbares Wohlbefinden, aber nicht auf Selbstverantwortung, gedeiht bis zur angepassten Willkür, aber nicht zur Freiheit.


Wer dagegen vernünftig – oder anders formuliert: wahrhaftig, sittlich, frei – geworden ist, hört auf, bloßer Teil der Abläufe des Lebens zu sein. Dieses geistige Erwachen zur Vernünftigkeit ist nachgerade eine zweite Geburt, ihr gehen zumeist schlimme geistige Wehen voraus, vor allem gilt es, die verstandesmäßig effektivierten Triebe handhaben zu können. Damit gerät man auf sich gestellt dieser ungeheuren Energie, die man Leben nennt, gegenüber, was man nur aushält, wenn man souverän wird, wodurch man sich die nötigen Seelenkräfte erschließt.